Freitag, 24. Juli 2009

Kynokyriologie

Wer die Tiere und vielleicht gerade die Hunde mehr liebt als die Literatur, wird Thomas Manns Herr und Hund dem Zauberberg vorziehen, Virginia Woolfs Flush der Mrs. Dalloway. Daran ist nichts Verwerfliches. Das Wunder der Begegnung über die biologische Gattungsgrenze hinweg, die einzige tiefe und unzweifelhafte Symbiose, die wir von Innen her erleben können, ist kein kleineres Wunder als das Wunder der Kunst, und die vergibt sich sicher nichts, wenn sie dem Thema nachgeht.

Wunderliche Seele! So nah befreundet und doch so fremd. They gazed at each other, Flush und Elizabeth Barrett - später dann Elizabeth Browning -, Elizabeth Barrett und Flush. Die Augen sind aufeinander gerichtet, die Stirnen dahinter aber verschlossen. Das ist, wenn wir auf den anderen Menschen schauen nicht anders, die Stirnen sind dicht, die Illusion des Verstehens gleichwohl erheblich stärker, und eine Illusion, an die man glaubt, ist schließlich keine bloße Illusion. Wollen wir uns in die Rolle des Hundes versetzen müssen wir die Augen nach oben richten zu einem Wesen über uns, aber in dieser Richtung hat Blickkontakt sich nie nachweislich herstellen lassen. Vielleicht verlassen wir uns auch zu sehr auf die Augen, to Flush religion itself was smell. In jedem Fall lernen wir in diesem Verhältnis, was es heißt der schwächere Teil zu sein, der die Hauptlast des Verstehens zu tragen und eine Theologie zu entwickeln hat. Fester Bestandteil einer vitaler Theologie sind Regeln, von denen man annimmt, sie seien vom Herrn gewollt oder ihm zumindest gefällig: Ein Gesetz seines Lebens ist, daß er nur rennt, wenn ich mich selbst in Bewegung befinde, sobald ich mich aber niederlasse, ebenfalls Ruhe beobachtet. Das hat keine erkennbare Notwendigkeit; aber Bauschan hält daran fest. Den selbstverordneten Regeln wird eindeutig der Vorzug gegeben gegenüber den von außen kommenden: Zäh in der gläubigen Treue, zeigte sich schon bald, daß er im Gehorsam durchaus nicht besonders stark war – und andererseits sind einige der selbstgesetzten Regeln dem Herrn durchaus nicht gefällig, aber das weiß nur der Herr: Er kommt zu mir, um sich abzuschütteln, so daß ein ganzer Sprühregen von Wasser und Schlamm mich anfliegt, was ihm gesetzmäßig scheint, darin läßt er sich nicht beeinträchtigen. – was sagt die offizielle Theologie zum Problem der von den Gläubigen befolgten, dem Herrn aber nicht gefälligen Gesetze? Wie im richtigen Leben wird die Theologie, oder sagen wir bescheidener, die Kyriologie in Herr und Hund entwickelt vom Geschöpf, als Kynokyriologie dann notgedrungen aber aufgeschrieben und kommentiert vom Herrn. Der Herr aber kann oft nur rätseln, für Blumenberg, der hartnäckig an der auf einen jugendlichen Übersetzungsfehler zurückgehenden Auffassung festgehalten hat, wonach Gott sich fürchtet und Gottes Ratschluß obendrein auch für ihn selbst unergründlich bleibt, hätte auch die Undurchsichtigkeit seiner Geschöpfe für Gott leicht zum Teil seiner Theologie werden können.

Die Darstellung von Landschaften und der sie besiedelnden Flora ist fester Bestandteil der Erzählprosa, bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger, bei Tolstoi mehr und bei Dostojewski weniger, bei Kafka weniger und bei Sebald mehr. Auch Bernhard ist ohne den Lärchenwald nicht denkbar, eine Prosa ganz ohne jeden Grashalm wäre in der Tat eine Wüstenei. Vögel fliegen durch die Bäume, ihr Gesang erklingt, aber aufs Ganze gesehen bleibt die Fauna wenig berücksichtigt, die Tiere sind, zumal dann, wenn sie die Augen auf uns richten, vielleicht zu sehr Konkurrenz im meistens auf das Menschengeschick konzentrierten Erzählvorgang. Man berichtet von der Jagd, und ist das Wild dann zur Strecke gebracht, tanzt Natascha Rostowa für uns auf unvergeßliche Weise.

Bei Sebald sind die Tiere, nimmt man die schiere Zahl der auftauchenden Motten, Heringe und Seidenwürmer, gegenüber den Menschen deutlich in der Überzahl, die Zahl der mit individualisierten und mit einem Personennamen versehenen Geschöpfe ist aber gering. Wir haben das Hündchen Toby im Roman Austerlitz, das in einer sonnendurchfluteten und meerzugewandten britischen Landschaft lebt, nicht unähnlichen Landschaften bei Virginia Woolf, ein Paradies und Toby ein winziger Teil davon, und wir haben den Dackel Waldmann in den Schwindel.Gefühlen. Aber ist ein Dackel, der Waldmann heißt, überhaupt individualisiert? Es wurde auch die Vermutung geäußert, seine Aufgabe bestehe nicht zuletzt nur darin, den Jäger Gracchus, in der Gestalt des Jägers Hans Schlag, an dessen Rucksack er angehängt ist, zu entkafkaeszieren mit seinem albernen Namen.

Bei Kafka selbst haben wir, neben einem Affen und verschiedenen Fabeltieren, unter anderem auch ein historisch verbürgtes Tier, Bucephalus, in seinem Äußeren erinnert aber nur noch wenig an die Zeit, da er noch Streitroß Alexanders von Macedonien war, und außerdem hat er sich bei der Advokatenkammer einschreiben lassen und ist damit in dem Zusammenhang, dem hier nachgegangen wird, nicht mehr verwendbar. Auch Hamsuns Äsop lebt kaum aus eigenem Recht, er ist vom Dichter von vornherein nur als grausam hingemeuchelte Opfergabe geplant. Eine ernstgenommene Romangestalt ist dagegen Fontanes Rollo in der Effi Briest, freilich nur in einer nachgeordnete Nebenrolle, wer wüßte schon den Namen seines Darsteller im Film noch zu nennen.

Der Hund Flush ist im gleichnamigen Buch Virginia Woolfs die Hauptperson, das Buch ist seine Biographie, komplett von der Wiege bis zur Bahre, auch wenn diese beiden Requisiten nicht tatsächlich in Erscheinung treten. Flush ist eine historische Gestalt, der Hund der Dichterin Elizabeth Barrett. Verschiedentlich wird auf die Ähnlichkeit der beiden, des Hundes und der Dichterin, angespielt, einleuchtend angesichts des auf allen überlieferten Bildnissen immer ein wenig leidend dreinschauenden und eng von Spanielohren durchaus vergleichbaren langen Drehlocken eingerahmten, dabei seltsam schönen Gesichts von Mrs. Barrett. Der Hund wird in dem Roman natürlich auch zu einem optischen Gerät der Richtungsänderung, das eine eigenwillige Beobachtung des Lebens von Elizabeth Garrett und Robert Browning aus der üblicherweise nach dem Frosch benannten Perspektive erlaubt.

Flush wird von der Dichterin Virginia Woolf zu nicht geringem Teil aus Briefen, Tagebucheintragungen und auch Gedichten der Vorläuferin im poetischen Beruf rekonstruiert. Damit liegt der Schleier des neunzehnten Jahrhunderts über der Tierpsychologie, die in einigen Passagen durchaus derjenigen des Katers Murr angenähert ist: When he watched her fingers for ever crossing a white page with a straight stick, he longed for the time, when he too should blacken paper as she did. Immerhin gelingt dieser Schritt Flush, anders als Murr nicht. Viele Passagen sind aber auch näher an der Wahrheit im Leben eines Schoß- und Stubenhundes: To resign, to control, to suppress the most violent instincts of nature – that was the prime lesson of the bedroom school. Dem auf einen gleichmäßigen Lebensverlauf angelegten Hundewesen kommt der Eintritt Robert Brownings in das Leben von Elizabeth Barrett, in dem er bis dahin die prominente Rolle spielte, schwer an. Er wird eingeführt in die schwer erträgliche Ambivalenz der Gefühle, hatred is not hatred, hatred is also love; here Flush shook his ears in an agony of perplexity. Die Flucht der drei nach Italien scheint zunächst kein Gewinn, to Flush all scenery was insipid, when they took him to Vallombrosa all the splendours of ist woods had merely bored him, das auch und nicht zuletzt für Hunde freiere Leben in Tuskien weiß er dann aber bald zu schätzen.

Ein Hundeleben währt noch kürzer als das einer Dichterin der Romantik, die aufgrund ihrer Konstitution und ihrer poetischen Berufung auf eine ausgedehnte Lebensspanne nicht hoffen konnte und sie auch nicht hatte. Mrs Browning went on reading. Then she looked at Flush again. But he did not look at her. He was silent. He had been alive; he was dead now. That was all. So bündig und leise schließt sich das Lebensbuch eines Hundes, daß aus der Stille die Frage nachhallt, wie es bei den Menschen denn anders sein könnte. The own little light might shine, not very brightly, for a year or two, ans would be merged into same bigger light, and that in a bigger still.

Der Hühnerhundbastard Bauschan ist in seinen besten Augenblicken das Inbild exzessiver Lebensfreude und vollkommenen Glücks. Seine Scheinabsicht, mir zwischen die Füße zu stoßen und mich zu Falle zu bringen, hat unfehlbare Täuschungskraft. Im letzen Augenblick aber weiß er zu bremsen und einzuschwenken, und nun beginnt er einen wirren Begrüßungstanz um mich herum zu vollführen, bestehend aus Trampeln, maßlosem Wedeln, das sich nicht auf das hierzu bestimmte Ausdruckswerkzeug des Schwanzes beschränkt, sondern den ganzen Hinterleib bis zu den Rippen in Mitleidenschaft zieht, ferner in einem ringelnden Sichzusammenziehens seines Körpers, sowie schnellenden, schleudernden Luftsprüngen nebst Drehungen um die eigene Achse. In Thomas Manns Erzählung steht niemand und nichts mehr zwischen den beiden einzig nennenswerten handelnden Personen, die auch gleich im Titel genannt sind, Herr (Thomas Mann) und Hund (Bauschan), andere schauen nur knapp hinein in das Geschehen, Familienangehörige, das Gesinde, die Fährleute, der Veterinärprofessor wegen okkulter Blutungen. Bauschan ist nicht irgendein Hund oder der Hund schlechthin, sondern ein Individuum mit allem Drum und Dran, am Ende sind seine Charakterkonturen nicht weniger scharf eingezeichnet als diejenigen Settembrinis oder Hans Castorps. Eine dritte Komponente allerdings, die erst das Ganze herstellt, tritt auffällig hinzu zu den ansonsten weitgehend einsamen beiden Protagonisten, die Landschaft nämlich, vom Dichter das Revier genannt, es handelt sich um einen Abschnitt in den Isarauen. Kann schon die Erzählprosa auf Landschaft und Flora kaum verzichten, Bauschan ist nichts ohne das Revier, das ihn als solches und als feuchter Dreck ebenso wenig interessiert, wie Flush der italienischen Szenerie irgendetwas abgewinnen konnte. Auf den täglichen Spaziergängen durch das Revier aber findet das gemeinsame Leben von Herr und Hund statt, für Bauschan das Leben schlechthin.

Durch das Fenster seines Arbeitszimmers hat der Dichter zuvor Bauschans karge und vergebliche Versuche einsamer Selbstverwirklichung beobachtet, er hebt das Bein und verharrt in dieser Position weit über jede Not und Vernunft hinaus, er dreht sich endlos um sich selbst, als könne die Wahl des Liegeplatzes nicht sorgfältig genug vonstatten gehen, um dann, hat er sich endlich niedergelassen, gleich wieder aufzuspringen, er streckt sich auf das ausführlichste, zunächst die Vorderpartie, dann die hintere, dann wälzt er sich auf dem Rücken und dann steht er regungslos, in starrer Weltverlorenheit auf dem Plan und weiß auch nicht das geringste mehr mit sich anzufangen. Abhelfen kann nur der gemeinsame Spaziergang, der seinerseits kulminiert in der Jagd, die einen Ausübenden, Bauschan naturgemäß, und im Herrn einen beobachtenden Teilnehmer hat. Aber auch für Bauschan hat die Jagd keinerlei Erwerbs- sondern ersichtlich nur Kunstcharakter. Allenfalls eine Maus wird dann und wann beklagenswertes Opfer, als sich einmal ein wilder Hühnervogel dank der besonderen Dummheit dieser Rasse arretieren läßt, bringt das den Hund nur in Verlegenheit. Die Jagd als Kunstausübung, das besagt aber nicht, daß sie nicht mit allem Ernst und aller Leidenschaft betrieben würde. Es ist die Leidenschaft, die gewollte, aufgesuchte und trunken genossene Leidenschaft selbst, die da durch die Landschaft gellt, und jedesmal wieder, wenn ihr wilder Schrei von fern oder nah an mein Ohr dringt, erschrecke ich auf eine heitere Weise, es fährt mir in die Glieder. – Bauschan als Künstler, es ist umsonst, es ist schön, aber vergeblich. Die Geburt der Kunst aus dem Geiste der Jagd? Höhlenmalereien sind so gedeutet worden. Ersichtlich lebt Bauschans Thomas Manns eigenes Kunstideal, ein Spiel, aber mit allem Ernst und aller Leidenschaft, ein Kunstideal, das der Dichter so irritierend mit der nur als aggressiv zu bezeichnenden bürgerlichen Gesetztheit seines Sprachstils kontrastiert.

Gerade in der deutschen Geistestradition fand der einsame und entsprechend eingestellte Wanderer gern zum Erlebnis der Einheit von Ich, Welt und Gott. Dieses hochfliegende Erlebnis läßt sich, sofern es sich überhaupt einstellt, nicht auf Abruf wiederholen. Anders der Gang mit dem Hund mit der gleichen Dreiklangstruktur, so lernen wir von Thomas Mann, wußten es aber auch bereits schon: Ich, Welt und das begleitende rätselhafte Wesen, der vertraute und doch wesensfremde Therapeut, zwei voneinander weit entfernte Wesen in der Welt, auf eine geheimnisvolle, ihnen keineswegs durchsichtige Art koordiniert. Als Bauschan zur Beobachtung okkulter Blutungen ins Spital verlegt wird, stellen sich beim Dichter sofort metaphysische Mangelerscheinungen ein: Meine Spaziergänge waren fortan, was ungesalzene Speisen dem Gaumen sind. Der Park schien mir öde, ich langweilte mich. Der Blick auf die Tiere als unsere kleineren Brüder ist der begrüßenswerte christlich domestizierte Blick. Kein Tier ist so weitgehend domestiziert, bei weiter bestehender Fremdheit, wie der Hund. Aufs ganze gesehen haben sich die Abrahamsreligionen aber nur wenig verdient gemacht um die Tierwelt, in den ursprünglicheren Religionen hatten die Tiere als Totem, heiliger Affe oder Kuh eine andere Stellung und haben sie an vielen Orten noch immer, unmittelbare und nicht selten bedrohliche Repräsentanten des Fremden und zugleich Gefährten bei seiner Bannung und Abwehr, Gefährten innerweltlicher Transzendenz.

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