Dienstag, 14. Mai 2013

Fragen des Stils

In einer Rezension vom 27. April 2013 in der FR ist zu lesen: Michon ist ein fabelhafter Stilist, durchaus auf der Suche nach dem perfekten, flaubertschen Ausdruck für die äußere, vor allem jedoch der inneren Wirklichkeit seiner Figuren. Immer aber, wenn der Stil nichts auszurichten vermag, wenn der Wohlklang der Worte zu verpuffen droht, weil sie der existenziellen Situation nicht beikommen, zeigt sich eine Neigung zum Archaischen in Michons Prosa.
Der in diesen Zeilen erscheinende Begriff von Stil ist gewöhnungsbedürftig. Stil wäre eine Schönwettervorrichtung, die weichen muß, wenn es ernst wird und Sturm aufkommt. Bei Michon müßten nach dieser Lesart zwei Schichten der Prosa festzustellen sein, eine stilhafte und eine stillose; eine entsprechende Feststellung läßt sich aus eigener Kraft nicht treffen. Der Rezensent gibt allerdings einen Hinweis, was bei Michon in der Krisensituation an die Stelle des Stils tritt: eine Neigung zum Archaischen. Sofern Stil vordringlich an sprachlichen Merkmalen festzumachen ist, könnte man an ein Ausweichen ins Patois denken oder an ein Zurückgreifen auf ältere Zustände des Französischen, ähnlich wie Brian Ó Nualláin an einer Stelle des Béal Bocht vom Neuirischen ins Mittelirische wechselt; nichts dergleichen aber ist festzustellen bei Michon. Il plut pendant tout septembre: sollen wir glauben, Michon, der fabelhafter Stilist, habe aufgrund der andauernd schlechten Wetterlage in Castelnau auf Stil ganz verzichten müssen?

Alles spricht dafür, daß der vorgeschlagene Stilbegriff, auch bei intensivem Bemühen, nicht gewöhnungsfähig und in sein Gegenteil zu verkehren ist. Stil tritt überhaupt erst auf, wenn es ernst wird, wenn es Dinge zu sagen gilt, die sich nicht sagen lassen, wenn es sich, wie der Theoretiker formuliert, um Operationen im Medium des Wahrnehmbaren oder Anschaulichen handelt, die, auch und gerade dann, wenn es um Wortkunst, um Dichtung geht, die übliche Sinnleitung der Sprache nicht in Anspruch nehmen. Stil ist die übergreifende, einem Ausdruckszwang entspringende, in Wortwahl, Satzbau, Motivik und Thematik eingezeichnete künstlerische Formentscheidung. Nach dieser Begriffskorrektur läßt sich bestätigen: Michon ist ein fabelhafter Stilist.

Wenn, nach seiner Einschätzung, Flauberts Stillektionen nur teilweise befolgt werden konnten, so bietet der Rezensent doch weitere Orientierungspunkte an: Stellen Sie sich eine Figur von Céline in der Provinz vor. Einen Icherzähler wie bei Gombrowicz, der umherrennt und den Spuren seiner Erregung folgt. – Die Anweisung läßt sich nur schwer beherzigen, anderen Lesern wären die beiden genannten Autoren eher nicht in den Sinn gekommen. Zum besseren Verständnis Michons kommt aber noch ein weiteres, diesmal negatives Wegezeichen ins Spiel: Wer Michon vor fünfzehn Jahren schon gelesen hat, fiel gewiß weniger heftig auf Houellebecq herein. – Auch das stimmt nachdenklich. Wieso ist Houellebecq kein Autor, den man mehr oder weniger schätzen oder auch ablehnen kann, sondern einer, auf den man notwendig hereinfällt, es sei denn, Michon stellt sich warnend in den Weg. Es handelt sich um zwei französische, in französischer Sprache schreibende Prosaautoren, beide offenbar in besonderer Weise dem Tabak zugetan, weitere Ähnlichkeiten sind auf den ersten Blick nicht festzustellen. Wenn es allerdings nicht mehr als zwei französische Autoren gäbe, Houellebecq und Michon, und man müßte sich für einen entscheiden, dann, und insofern hat der Rezensent in einem tieferen Sinne Recht, bestünden gute Gründe, sich für Michon zu entscheiden.

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