Sonntag, 10. November 2013

Säkularisierung

In seinem monumentalen, von ihm selbst immer wieder angesichts der Größe der Aufgabe als bei weitem zu schmal empfundenen Werk zeichnet Charles Taylor den Prozeß der Säkularisierung im Zeitraum von 1500 bis 2000 nach. Während um 1500 ein glaubenloses Leben so gut wie undenkbar war, sind in unserer Zeit die Anhänger eines exklusiven, gottfreien Humanismus in der Überzahl. Es ist aber nicht einfach die Ablösung eines Zustands durch einen anderen, currents swirl in different directions, es gibt inzwischen zahlreiche Formen des Glaubens und nicht weniger Formen des Unglaubens und dazwischen eine große neutral zone, a kind of no-man’s-land. 500 Jahre, nach unserem heutigen Kenntnisstand nur ein Wimpernschlag im Auge des Herrn, nach traditioneller Berechnung, die das Alter der Welt auf nur wenige Tausend Jahre veranschlagte, allerdings eine beträchtliche Spanne und in jedem Fall, wie es scheint, Zeit genug, den Herrn aus dem Auge zu verlieren.
Der Prozeß der Säkularisierung umfaßt eine Reihe von Komponenten. Da ist die bereits von Max Weber ins Spiel gebrachte Entzauberung der Welt. Im Jahre 1500 führten Geister, Hexen, Engel u.a. noch ein reales Leben, heute sind sie aus dem Alltag so gut wie verschwunden. Die Individuen, die dem Zugriff der übernatürlichen Kräfte schutzlos ausgeliefert waren, sind jetzt durch die Gewohnheit rationalen Denkens bestens gepolstert (buffered). Neben der unablässig ablaufenden physikalischen Zeit gab es die Hohe Zeit, die als Abglanz der Ewigkeit an den Festtagen der Christenheit spürbar wurde. Niemand, der heute in der Adventszeit durch das auf Konsum getrimmte, dudelnde Innere der Stadt geht, spürt noch den Hauch des Ewigen. Der Mensch hatte eine privilegierte Stellung in einem von Gott auf seine Belange hin geordneten Kosmos, heute schaut er in die gnadenlose Raum- und Zeitweite des Universums. Diese und andere Veränderungen haben die Glaubenswelt aus ihrer als unverrückbar erscheinenden Verankerung gehoben.
Nach der üblichen Erklärung hat das in der Neuzeit aufkommende und sie seither bestimmende wissenschaftlich-rationale Denken das Denken in Glaubenskategorien gleichsam verscheucht. Diese Art der historischen Nacherzählung ist Taylor zufolge nicht falsch, aber eindeutig zu dünn. Säkularisierung bedeutet nicht unmittelbar Abkehr von der Religion, sondern zunächst eine graduelle Abkehr der Religion von spezifischen, auf das Jenseits gerichteten Lebensformen, wie dem Mönchstum, hin zum Saeculum, zu einem innerweltlich gelebten Glauben. Im Deismus gingen das religiöse und das rationale Denken eine eigenartige Verbindung ein. Gott verzichtete fortan auf unmittelbare Eingriffe in das Weltgeschehen, blieb aber greifbar in dem auf ihn zurückgehenden vernünftigen Design der Welt, das von der korrespondierenden menschlichen Vernunft entschlüsselt werden kann. In diesem letztlich labilen Verhältnis zeichnet sich aber bereits ab, daß der Glaube in Zukunft nicht mehr auf die Vernunft, die Vernunft im Rahmen eines exklusiven Humanismus aber sehr wohl auf den Glauben verzichten kann. Allerdings kann auch der exklusive, gottlose Humanismus in seiner spezifischen europäischen, für den Kanadier Taylor: in seiner nordatlantischen Ausprägung seine Geburt aus dem Geist des Christentums nicht verhehlen: A moral temper to which it seems obvious that our major concern must be our dealings with others, in justice and benevolence; and these dealings must be on the level of equality.
Wenn dies die den nordatlantischen Raum offiziell dominierende Einstellung sein mag, so ist sie es sicher nicht in unbestrittener Weise. Für jemanden, der sich im Wegenetz Romantik, Schopenhauer, Nietzsche, Freud, Foucault voranbewegt hat, wird sie lachhaft, wenn sie mehr sein will als die nüchterne Grundlage politischen Handelns und beansprucht, den Sinnbezirk bis zum Horizont auszufüllen. Auch für den Glauben ist die einseitige Bindung an einen optimistischen Humanismus nicht gesund. Die Vorstellung des Jüngsten Gerichts, vom Einzug in die strahlende Ewigkeit auf der einen und vom Höllenverdammnis auf der anderen Seite offered, for all ist faults, an articulation of the dark side of creation. Simply negating it, as many of us modern Christians are tempted to do, leaves a vacuum. Or it leaves an unbelievably and childishly benign picture, which cannot but provoke people either to unbelief, or to a return to an hyper-Augustinian mode of faith, unless it leads to a recovery of the mystery of the Cruifixion, of world-healing through the suffering of the God-man.

Taylor betont, daß er sich nicht im Rahmen einer soziologischen Theorie, sondern im Feld sozialer Einbildung (social imaginary) bewegt, in dem, was normale Menschen als ihre soziale Umgebung erleben. Die Unterscheidung erinnert ohne weiteres an Luhmanns Unterscheidung von Gesellschaftsstruktur und Semantik. Mit Semantik (social imaginary) beschäftigt sich Luhmann allerdings nur zum Zweck und zum Beleg seiner Theorie. Da für ihn Gesellschaft ausschließlich aus Kommunikation (und nicht etwa aus Menschen) besteht, ist gleichzeitig ein scharfer Unterschied zwischen Semantik und Theorie nicht auszumachen, auch Theorie ist Semantik, allerdings in einer sehr speziellen und extremen, bei Taylor fehlenden Form. In dieser Sichtweise entfällt auch das Pingpong zwischen Hegel und Marx, die Frage also, ob nun das Bewußtsein (Semantik/social imaginary) das Sein (Gesellschaftsstruktur) bestimmt oder umgekehrt, die Unterscheidung selbst ist obsolet. Dem Luhmannadepten geht es bei der Lektüre Taylors wie einem bislang allein auf die Klasse der Wirbeltiere spezialisierten Zoologen, der mit einer Studie über das Leben der Tintenfische beauftragt wurde. Schon bald aber kann er die Begeisterung vieler seiner Kollegen für diese wundersamen Tiere verstehen.

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